Superintendent Stuberg zum Gedenken an Luise
Gottesdienst am 19. Februar 2023 in der evangelischen Kirche Freudenberg mit Gedenken an die getötete zwölfjährige Luise. Predigt von Superintendent Peter-Thomas Stuberg.
Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass Du mir helfest!
Denn Du bist mein Fels und meine Burg! Und um Deines Namens willen wollest Du mich leiten und führen.
Psalm 31
Liebe Gemeinde,
Langsamer werden dürfen, innehalten können und zum Schweigen kommen. Viele Menschen hier in Freudenberg fühlen in sich dieses dringende Bedürfnis nach Ruhe und Innehalten, möchten still sein und privat besonders nach den aufwühlenden Ereignissen der letzten Woche. Jetzt erst einmal innehalten und zur Besinnung kommen. Hier in dieser alten Kirche. Seit Jahrhunderten dient sie als Zufluchtsort in allen Wechselfällen des Lebens, lenkt sie unseren Blick auf eine ganz andere Wirklichkeit jenseits dessen, was Menschen erleben müssen. Eine Wirklichkeit, in die sie uns zurückholt und die uns hält, die uns zur Ruhe kommen lässt. Sie führt uns jetzt hinein in den Raum vor Gott. Und hier spüren wir uns eindeutiger vor IHM und können zu ihm bringen, was sich an Schwerem und Unerklärlichem auf unser Herz gelegt hat.
Unerklärlich und unfassbar bleibt es noch immer.
Luise ist tot. 12 – jährig! Ein Kind noch! Das allein schon ist schwer zu begreifen. Schwerer noch wiegt es, dass zwei Gleichaltrige sie töteten. Selbst auch noch Kinder! „Wir sind sprachlos, fassungslos, erschüttert“. Mit solchen Worten haben sich viele Menschen hier in das Kondolenzbuch für Luise eingetragen. Wir ringen alle immer noch um Worte und um Fassung. Wie ist das passiert? Und: warum konnte so etwas passieren? Diese Fragen drängten sich uns sofort nach der ersten Nachricht vom Tode auf. Wir suchen nach Antworten. Wir versuchen das Schlimme auch nur annähernd zu verstehen, möchten es irgendwie herleiten und einordnen können, suchen danach, wie es womöglich hätte verhindert werden können. Aber das, was wirklich geschehen ist, wird uns im Kern verborgen bleiben. Verborgen aus gutem Grund. Es geht um Kinder! Wohl machen wir uns mittlerweile allerlei Bilder im Kopf von dem, wie es sich zugetragen haben könnte. Doch unsere Bilder im Kopf sind immer nur übermittelte Bilder. Bilder aus zweiter und dritter Hand. Sie bleiben höchst bruchstückhaft, gerüchteweise und spekulativ. Unsere Vorstellungen von dem was auf jenem Waldweg sich zutrug, entwickelten sich in wenigen Tagen. Sie entstanden in einem medialen Überbietungswettbewerb. Und auch der wurde nur gespeist von unserem Hunger nach schnellsten Nachrichten, die vollständig aufklären sollen. Hüten wir uns aber zu glauben, wir wüssten genug von dem, was wirklich geschah. Und warum es passierte. Hüten wir uns vor leichtfertigen Kommentaren und schnellen Urteilen. Wir kommen immer wieder dahin zurück, dass wir auf alles Fragen nach dem Warum am Ende keine Antwort bekommen.
Zurecht verschließt das Gesetz die Türen vor der Öffentlichkeit zu Tat und zu Tätern. Es verwehrt uns jeden Blick ins Innere, erst recht in innerste Beweggründe von minderjährigen Menschen. Das Gesetz stellt aus guten Gründen jetzt ganz andere Fragen: „was wird Kindern gerecht, selbst wenn sie zu Tätern geworden sind?“ Um für solche Fragen Lösungen zu finden, da braucht es dann mehr als einfache und unkundige Antworten. Da verbietet es sich geradezu, dass im Netz ganz schnell Schuld und Strafe festgelegt wurden, Täter und Strafmaß ganz schnell bestimmt waren. Es verbietet sich insbesondere, wenn in den sozialen Medien hemmungslos erschreckend Viele nun ihre erste Steine werfen – wenn auch nur digital. Sie sollen genauso treffen, verletzen und vernichten als seien es echte! Wer sind wir aber, dass wir glauben, Richter zu spielen und den Stab brechen zu dürfen über andere? Noch dazu wenn unser Wissen von dem was gewesen ist nur Stückwerk bleiben kann. Wie können wir urteilen über Menschen, die jetzt statt schneller Verurteilungen ihren geschützten und abgeschirmten Raum nötig haben, die ihre eigene Zeit brauchen. Unseren Blicken entzogen! Und die allesamt von unfassbarem Leid getroffen worden sind!
Nein wir können als nicht direkt Betroffene jetzt nur mehrere Schritte zurücktreten und schweigen: beschämt und bekümmert. Können nur das unfassbare Leid versuchen mit den Betroffenen zu tragen. Können nur uns selbst im Blick behalten, dem in uns nachspüren, was das Schlimme, von dem wir nur aus dem Abstand erfahren haben, eigentlich mit uns gemacht hat hier mit dem Ort und mit uns ganz persönlich. Müssen es zulassen, dass wir einfach nur hilflos sind, können allenfalls uns kleinlaut unser Ohnmachtsgefühl eingestehen, angesichts dieser unfassbaren Tatsache: Luise ist tot! Menschen, die ganz nah mit ihr lebten, ihre Familie, ihre Freunde ihre Mitschüler und Lehrer werden sie nun sehr vermissen. Ihr Stuhl in der Schule, am Familientisch und im Kinderzimmer bleibt leer. Ihre Liebsten müssen Abschied nehmen von persönlichen Bildern, die sie von ihr vor Augen haben, werden den Klang ihrer Stimme nicht mehr hören dürfen, werden keine gemeinsamen Erlebnisse mehr mit ihr teilen. Alles wurde jäh und gewaltsam zerbrochen. Es tut nur weh! An den Schmerz dieser Menschen, die mit Luise ihr Leben teilten, wollen wir besonders vor Gott denken. Luise- der Name des 12 – jährigen Mädchens hat in den letzten Tagen aber auch in ganz vielen Menschen, die sie nicht kannten, eine unbeschreibliche Art von Vertrautheit und menschlicher Nähe erwachsen lassen. In Gedanken waren ganz viele Menschen bei ihr, bei Luise; auch wenn ihr Name sich für diese Menschen allein mit dem Schrecklichen verbinden konnte, das sie erleiden musste. Kinder, Jugendliche, Eltern, Großeltern – in ganz Vielen löst der Name Luise seit einer Woche etwas aus, weckt er eine gemeinsame tiefe Betroffenheit und eine je eigene Trauer in den ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten und Lebensphasen dieser sich völlig unbekannten Menschen. Luise wurde aus unserer Gemeinschaft gerissen als eine, die dort ihren festen Platz hatte. Ihre Lücke schmerzt alle, auch die, die sie überhaupt nicht gekannt haben.
Was aber machen wir jetzt mit solchen übermächtigen unsortierbaren Eindrücken in uns? Was machen wir mit unseren Gedanken und Gefühlen, die ständig um diese extreme Ausnahmetat kreisen? Wohin können wir gehen? Wo einen Halt finden? Neue Zuversicht gar?
Schweigend und innehaltend finden wir uns gemeinsam hier wieder. In gemeinsamem Aufgewühltsein und geteilter Fassungslosigkeit. Das schon ist viel! Aber befinden wir uns jetzt wirklich vor Gott? So mögen manche jetzt fragen. Vor einem Gott, der ihnen fremd geworden sein mag in diesen Tagen. Dessen Bild von einem gütigen sich um uns kümmernden Gott in der letzten Woche völlig verdunkelt worden sein mag von dem gewaltsamen Tod dieses 12 – jährigen Mädchens? Wurde Gottes Hirtesein, der uns auch im finsteren Tal nicht allein lässt nicht Lügen gestraft von diesem grausamen Ende eines Kinderstreites, dem niemand Einhalt geboten hat? So scheint es doch angemessen wenn schon über das schreckliche Ereignis zu schweigen, dann in eins damit auch zu schweigen über Gott! Von ihm zu schweigen stünde uns mitten in diesem schweren Leid bestimmt besser zu Gesichte als vermeintlich vollmundige Auskunft geben zu können über das was er eigentlich will, wo er in Wirklichkeit war und warum er Schreckliches geschehen ließ. Der Psalmbeter öffnet da jedoch einen anderen Weg. Er erklärt Gott nicht, aber er schweigt auch nicht einfach über ihn. Er hilft uns mit Gott zu reden selbst noch am Rande unseres Verstehenkönnens. Er hilft uns das Treten auf der Stelle, das depremierende Schweigen zu beenden. Er leiht uns seine Worte, wo uns nur noch nach Schweigen der Sinn steht. Und vielleicht entfalten seine Worte ihre Kraft gerade dann, wenn die eigenen Worte verstummen, wenn unser Reden nur hohl, kraftlos und merkwürdig stumpf werden kann. Vielleicht mögen wir uns seine Worte jetzt zu den eigenen machen? Es sind Worte, die zu Gott hinführen. Er betet sie nämlich: „Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!“ Mehr Suchendes höre ich da aus seinen Worten, als Findendes. Mehr Tastendes als Besitzendes. Mehr Fragendes als klare Antworten. Und doch wendet er sich gerade so suchend und vortastend mit einer genauen Erwartung an Gott. Mit einem präzisen Verlangen, das er nun betend auf eine einzige Karte setzt. „Sei Du mir ein Fels, gerade dann, wenn mein Glaube eben nicht mehr felsenfest sein will und stark, wenn mein Vertrauen in dich nicht mehr stabil und unerschütterlich sein kann. Wenn mir meine bewährten Gewissheiten über dich zerfließen wie Gegenstände in surrealen Gemälden, wenn meine kindliche Geborgenheit in Dich grundlegend erschüttert wird von solchen extremen Ausnahmeerfahrungen. Wenn unter mir alles ins Wanken gerät. Dann Gott sei Du für mich da, lass dich begreifen als fester verlässlicher Boden unter meinen Füßen, als Fels, der seit Jahrmillionen nicht von der Stelle weicht. Sei dann da für mich wie eine Burg, in die ich fliehen kann, wenn ich mich bedrängt fühle von nagendem Zweifel, wenn ich mich zutiefst ängstige und ganz verstört bin. Dann halte mich fest IN DIR geborgen wie in einer Burg, in deren Mauern ich sicher bin und in der ich Frieden erleben darf. Lass Dich erfahren wie eine bergende Burg, in der mein verletzlicher zitternder Glaube von Deinen stabilen Mauern umgeben wird. Sei du es Gott, sei du Stein unter meinen Füßen und Mauer um mich herum. Hilf mir so! Schenke mir Halt, wenn alles wankt. In diesem Gebet geschieht etwas Unerklärliches. Es geschieht eine Wandlung. Es geschieht, dass sich in dem Betenden sein Suchen in eine neue Gewissheit verwandelt: Denn DU Bist mein Fels und Du bist meine Burg. So kann er plötzlich sprechen. Wieviel Zeit mag zwischen diesen beiden Sätzen liegen? Wieviel Zeit hat er gebraucht, damit aus seinem ratlosen Bitten diese neue Gewissheit aufkeimen konnte. Gott will sich als persönlicher Fels erweisen, als MEIN Fels, mehr als der Beter gehofft hatte. Als MEINE Burg- sie ist mehr als der Beter sich erbeten hatte. Gott zeigt sich auf unerklärliche Weise und wenn er sich zeigt, dann als persönlicher Gott. Als mein Gott, der mich trägt, der mich birgt. Das glauben zu können wächst nicht aus eigener Kraft. Das muss ER in uns wirken und er tut es wohl, weil er es will: uns gewiss machen. Uns Halt geben.
Beten wir darum so Gott herbei. Herbei in die Trauer der zutiefst verletzten Familie von Luise. Dass er sich in ihr alsbald als Fels und als Burg erweisen möge. Auch wenn wir mit ihnen nicht verstehen, warum diese schreckliche Tat geschah. So möge Gott in allem Unverstehen ihren verletzten Seelen seinen Halt schenken, sich ihnen erweisen unbemerkt als IHR ganz naher Gott. Möge er nun Luise in sich bergen wie in einer Burg, in ihrer eigenen Burg, in der der endgültige Tod keinen Zutritt bekommt, weil Christus sie für immer verschlossen hat. Und die sie unerklärlich wie in Gottes Hand hält. Und möge er uns leiten auf dem Weg nach vorne, leiten um wieder hinein zu finden ganz allmählich mit aller Zeit, die es braucht; leiten in so etwas wie Normalität. Dass in den Straßen und auf den Plätzen, vor den Schulen und in den Kindergärten hier in Freudenberg wieder unbeschwertes Kinderlachen und normales ganz ungefährliches Kindergezänk zu hören sein wird. Dass die Menschen hier im Ort wieder privat werden und zur Ruhe kommen können und zu sich selbst und so wieder Zuversicht und Lebensfreude schöpfen. Ob das wohl gelingen wird? Auf unerklärliche Weise kann es wohl heute schon geschehen und wird es auch eines Tages geschehen. Auf so unerklärliche Weise wie UNSER Gott selbst es schließlich ist. Der uns auf unerklärliche Weise leiten will leiten ins Leben.
Amen